Digitales Mindset – von Estland lernen

Zum 15.03.2019 hat Daniel Ridder die Leitung der Stabsstelle Strategie / Innovationsmanagement bei der AOK Systems übernommen. Daniel Ridder war vorher im Geschäftsbereich Entwicklung als Softwarearchitekt tätig. Im März 2019 begab er sich in seiner neuen Funktion auf eine E-Health-Reise nach Estland, das in Sachen Digitalisierung absoluter Vorreiter in Europa ist. Von dort hat er eine Menge Inspirationen und Anregungen mitgenommen, wie er im nachfolgenden Interview mit der sysTEMATIC Redaktion verriet.

 
Welche Erkenntnisse hat Ihnen die E-Health-Reise nach Estland für die Digitalisierung im Gesundheitswesen gebracht?
Ich habe einen Blick in die Zukunft geworfen. Wie könnte ein Deutschland aussehen, wenn wir unser „Not-Invented-Here-Syndrom“ der deutschen Ingenieurskunst abgelegt haben: „Was nicht hier erfunden wurde, wird auch nicht angewendet“? Also wenn wir Deutschen nicht mehr über die Einführung einer digitalen Identität streiten, sondern wenn diese als völlig normal etabliert – einfach da ist. Diese, ohne darüber nachzudenken, selbstverständlich genutzt wird.
 
Estland ist europäischer Vorreiter in Sachen Digitalisierung
So wie in Estland. Nicht jeder Este lebt in der Hauptstadt Tallinn und gehört einem IT-Start-up an. Dennoch profitiert jeder von der Digitalisierung. Internet ist dort ein Grundrecht, Wi-Fi-Hotspots säumen die bewohnten Flächen. Der Bürger in Estland macht seine Steuererklärung mit wenigen Klicks, gewählt wird online.
 
Ich habe erfahren, wie ein digitales Gesundheitswesen akzeptiert wird, die Menschen bereichert – und was geschieht, wenn einmal eine IT-Panne eingetreten ist. Als Beispiel:
An einem Nachmittag trafen wir den Vorsitzenden vom Management Board des Health Insurance Funds – Rain Laane. Er berichtete uns von seinem letzten Fernsehauftritt, in dem er sich für den Ausfall des E-Rezepts vor den Bürgern Estlands entschuldigte. In Estland werden Rezepte digital ausgestellt. D. h., das Rezept muss nicht per Postweg empfangen oder persönlich beim ausstellenden Arzt abgeholt werden, es liegt digital vor und kann daher direkt in einer Apotheke eingelöst werden. Noch besser: Dies gilt länderübergreifend zwischen Estland und Finnland. Wenn die Technik streikt und es können keine Rezepte selbst für einen kurzen Zeitraum eingelöst werden, so muss der verantwortliche Vorstand des Health Insurance Fonds diese Situation erläutern und sich vor den Bürgern entschuldigen. Nun kann man dies drehen und wenden und in unterschiedlichen Facetten bewerten. Dennoch verdeutlicht es, wie etabliert E-Health in Estland ist und wie selbstverständlich z. B. ein E-Rezept ist. Und wehe, es funktioniert nicht …
 
E-Ausweis: bei uns wünschenswert, in Estland Realität
Oder stellen Sie sich einmal folgende Aufgabe vor: Wer einen elektronischen Personalausweis hat, der möge dessen Online-Ausweisfunktion freischalten - ja, das gibt es. Wer dies geschafft hat, der möge das Bürgerportal der Esten aufsuchen und versuchen, sich dort einzuloggen. Die Frage nun: Was war einfacher – sich im Bürgerportal einzuwählen oder den deutschen Personalausweis freizuschalten? Ich selbst habe es in Estland einmal versucht: Mithilfe der App „AusweisApp2“ und des im Personalausweis integrierten NFC-Chips ist eine Einwahl ins Bürgerportal problemlos möglich, in Deutschland gleicht schon der Vorgang der Ausweisfreischaltung eher einer Odyssee. Dabei wäre es so einfach – dies ist der erste Blick, wie wir uns auch in Deutschland einmal digital ausweisen und alle damit im Anschluss verbundenen Funktionen auf problemloseste Art und Weise digital nutzen könnten.

Wo ist Estland weiter als Deutschland?
Bei dieser Frage möchte ich nicht unbedingt mit Technologien und dergleichen antworten. Die Esten sind uns Deutschen in Belangen des Vertrauens in den Staat und die computergestützten Möglichkeiten weit voraus. Es wird nicht über die digitale Bürgeridentität gestritten, sondern sie ist selbst Alltag – völlig natürlich. Wir würden sagen: Der Este hat ein anderes Mindset. Oder: Die Kultur ist in den Themenfeldern aufgeschlossener. In Estland gilt das Opt-out: die Zustimmung verweigern – nicht das Opt-in: ausdrücklich die Zustimmung erklären. Digitalisierung ist der Standard. Wenn dies jemand nicht möchte, muss er dies explizit verkünden und wird dann analog gehandhabt.

Was können wir von Estland lernen, welche Erkenntnisse können/sollten wir daraus für unser Gesundheitswesen ziehen?
Was mich am stärksten bewegt hat, war das überzeugende technische Konstrukt hinter der Vernetzung. Wie haben die Esten das gemacht? Was steckt hinter der Digitalisierung in Estland? Das Konstrukt nannte sich X-Road, wurde nach der Übergabe an das Standardkonsortium NIIST in X-tee umbenannt und liegt als Software-Lösung frei zugänglich in einem Repository in GitHub. X-tee ist OpenSource!
 
Grafik: Nordic Institute für Interoperability Solutions/https://www.niis.org/data-exchange-layer-x-road)
Die Vision 2021 des NIIS zur X-Road lautet: “X-Road is thriving as a core digital infrastructure component in the Nordic countries and is a well-known technology standard within the EU countries.” Deutsch: „X-Road entwickelt sich als Kernstück der digitalen Infrastrukturkomponente in den nordischen Ländern innerhalb der EU“.

Nach den ersten Diskussionen zum Thema X-Road ging mir direkt das Thema ESSI durch den Kopf. Warum wird in der EU ein solch komplexer Datenaustausch verabschiedet, wenn digitale Lösungen mit einem direkten Datenaustausch zwischen Institutionen gelöst sind?
 
Die gesamte Vernetzungsarchitektur, die Software, welche Netzknoten beschreiben, die Kommunikationsmuster – Architekturdokumentationen sind OpenSource und für jedermann, besser gesagt, Jeder-Staat, frei zugänglich. Während wir also in Deutschland mit der gesetzlich vorgeschriebenen elektronischen Patientenakte ab 2021 einen ersten, wichtigen Meilenstein in Deutschland haben, könnten wir eigentlich bereits jetzt über eine digitale Identität via Karte, SIM oder App sprechen. Digitale Signaturen für Dokumente oder Transaktionen wären keine Fragestellung mehr, sondern sind bereits erschlossen. Und Estland gehört zur EU, d. h., die Lösungen entsprechen und unterliegen der EU-DSGVO und sind eIDAS „Verordnung der Europäischen Union zu elektronischen Identifizierungs-, Authentifizierungs- und Vertrauensdiensten“ zertifiziert. Wir könnten auf eine etablierte Vernetzungsarchitektur aufsetzen, diese auf die Größe von Deutschland skalieren und uns der Anpassung oder, besser gesagt, einem nationalen Customizing widmen. Die Stärken Deutschlands, mit dem Blick der Versorgungssteuerung, könnten wir jetzt in Angriff nehmen und hier also aufbauend weitere Mehrwerte schaffen.

Aber Estland zeigt sich auch von seiner Schattenseite – geht mit den Problemstellungen dabei aber offen und selbstreflektiert um. Wenn man wiederum zu schnell unterwegs ist, wird es im Nachgang schwer, Daten zu standardisieren, um diese auszuwerten und für Steuerungsmaßnahmen heranzuziehen. Ähnliches erleben wir auch bei der deutschen elektronischen Patientenakte bei dem Thema Versorgungssteuerung, die nicht berücksichtigt wurde.

Grundsätzlich gilt: Das Thema Digitalisierung im Gesundheitswesen darf nicht zum Konkurrenzkampf bzw. Wettbewerb führen, die Möglichkeiten dürfen also nicht von Kasse zu Kasse differenzieren. Es muss ein Standard etabliert werden. Und dieser muss gesetzlich bindend für alle Teilnehmer des Gesundheitswesens sein. Im Sinne der Versicherten führt daran kein Weg vorbei.

Was bedeutet dies für die AOK Systems, wie kann die AOK Systems daraus einen Nutzen für ihre Kunden generieren?
Durch den Blick in die Zukunft wird eines sehr deutlich: Die Vernetzung im Gesundheitswesen ist ein klarer Mehrwert für jeden Bürger. Was auch ersichtlich ist – E-Health muss funktionieren, darf sich dabei aber nicht in den Vordergrund stellen. Die IT-Unterstützung des Gesundheitswesens kommt dort zum Tragen, wo die Informationen benötigt werden. D. h. beim behandelnden Arzt, beim Notarzt, in der Apotheke, in der Reha, im Krankenhaus. Nicht aber in dem Format, dass ich als Versicherter täglich meine Gesundheits-App starte und prüfe, was denn Neues über mich erfasst wurde. Informationen müssen da sein, wenn ich oder z. B. ein Arzt diese benötigen. Für die IT-Systeme einer Krankenkasse und damit für oscare® bedeutet dies: Der Fokus liegt auf Automatisierung (unterstützt durch selbstlernende Systeme), Entscheidungsunterstützung und gezielte Informationsaufbereitung für Mitarbeiter einer Krankenkasse. Dies gilt nicht nur für Kassenprozesse, welche perspektivisch über Fachmodule der gematik vernetzt werden, sondern ebenfalls für den direkten Versichertenkontakt. Es gilt, eine bestmöglich personalisierte Ansprache zum Versicherten anzubieten und früh zu erkennen, welches Anliegen, welcher Bedarf besteht – im Best Case, bevor der Versicherte sich selbst meldet.

Was möchten Sie im Sinne unserer Kunden zukünftig vorantreiben?
Nach der einfachen Prozessautomatisierung müssen wir den Wissensschatz von oscare® effizient nutzen. In dessen Datenbestand liegt Know-how von Sachbearbeitern, das sich im Umfang vermutlich auf mehrere Tausend Mannjahre beläuft. Diesen Schatz gilt es mit den Möglichkeiten von KI oder maschinellem Lernen zu heben und Prozesse auf Basis dieses Wissens zu veredeln, Kapazitäten für neue Fragestellungen und Aufgabestellungen unserer Kunden freizusetzen und so oscare® evolutionär weiterzuentwickeln. Dabei ist es notwendig, jetzt den Fokus auf die Kundenintimität zu legen und durch innovative, vielleicht auch im ersten Ansatz disruptive Methoden oder Technologien neue Themenfelder und damit Möglichkeiten bei der Digitalisierung zu erschließen.